Die Aura der Bäume

«Bäume sind Heiligtümer. Wer mit ihnen zu sprechen, wer ihnen zuzuhören weiß, der erfährt die Wahrheit. Sie predigen nicht Lehren und Rezepte, sie predigen das Urgesetz des Lebens.»

Hermann Hesse

Bei einem Besuch im Château de Montcaud spazieren Gäste auch durch die Botanik der Welt

Einen Wald zu betreten heisst, die eigene Welt zu verlassen. Man spürt, wie sich die Ruhe auf einen herabsenkt und ein friedliches Gefühl den Körper durchflutet. Das gilt ganz besonders für den Wald im Park des Château de Montcaud. Mehr noch. Wer durch ihn flaniert, flaniert durch die Botanik der Welt. In dem über fünf Hektar großen Arboretum stehen nämlich mehr als 140 ausgewachsene Baumarten, die ihren Ursprung in Syrien, Japan, Persien und natürlich in ganz Europa haben. Als die heutigen Inhaber das Schloss 2016 erwarben, glich der Wald noch einem undurchdringlichen Dschungel. Exotische Exemplare kämpften um die Lufthoheit, darunter gab es kaum noch ein Durchkommen. Was für ein Glücksfall, dass bei der Renovierung des Gebäudes die Originalpläne des Parks aus dem Jahre 1892 ans Licht kamen – und er mit Hilfe von Marc Brillat-Savarin in seinen ursprünglichen Zustand zurückversetzt werden konnte.

Der Baumflüsterer

Marc Brillat-Savarin ist einer der bekanntesten Arboristen in Frankreich. Ein sportlicher Mann mit dunklen Haaren und einem kurzgeschnittenen Bart. Er kennt die Geschichte der Bäume, weiss ihre Rinden wie die Zeilen eines Buches zu lesen und spricht zuweilen wie ein Poet über die Bäume. Natürlich mag er sie alle, den Syrischen Wacholder, den Japanischen Schnurbaum oder den Persischen Flieder. Seine besonderen Lieblinge jedoch sind die Stieleichen, die neben Steineichen, Flaumeichen und Pyramideneichen den Waldpark hinter dem Schloss schmücken. Bis zu 40 Meter ragen sie in die Höhe – und sie bewahren, wie Marc Brillat-Savarin sagt, «die Erinnerungen früherer Generationen». Wie er das meint? «Wir stehen unter einem Eichenbaum und wissen, dass unsere Vorfahren – und hier die früheren Besitzer des Schlosses – das Gleiche taten.» Diese, ja, spirituelle Aura der Bäume spüre man zuweilen auch, wenn man zart über ihre Rinde streicht.

Tierische Vielfalt

»Die botanische Vielfalt dieses Parks mit seinen riesigen Bäumen ist charakteristisch für die Landschaftsparks des 19. Jahrhunderts«, sagt Marc Brillat-Savarin, während wir das Wasserbecken mit der Grotte passieren und uns immer tiefer ins botanische Grün begeben. Grillen zirpen, ein paar Frösche quaken an diesem frühen Morgen, einmal ruft ein Kauz und irgendwann fällt ein Zapfen von einer Zeder herab. Ein paar Insekten spielen Fangen im Lichtkegel der Bäume wie tanzende Staubkörnchen. Manchmal stolzieren Fasanen durch den Park und auch Füchse lassen sich zuweilen hier sehen. Und wenn sich Hase und Fuchs gute Nacht sagen, scheint die Natur im Reinen zu sein. Oder trügt der Schein?

Wandelndes Klima, wandelnder Park

Marc Brillat-Savarin sagt, dass der Gesundheitszustand der Bäume ganz unterschiedlich ist. Im vergangenen Jahr wurde eine prächtige Schirmkiefer im südwestlichen Ende des Parks von einem Sturm getroffen. «Sie fiel um und nahm einen Teil der Geschichte dieses Anwesens mit. Wir haben ihren Stamm in der Nähe als Andenken abgelegt.» Der Klimawandel bringe immer stürmischere Winde mit sich. Klima und Krankheit führen auch dazu, dass Marc Brillat-Savarin manchmal einen Baum fällen muss. Um solche Verluste auszugleichen, werden im Park des Château de Montcaud jedes Jahr etwa zehn neue Bäume und zahlreiche begleitende Sträucher gepflanzt, insbesondere solche, die mit dem sich wandelnden Klima prima zu Recht kommen. Dazu zählt beispielsweise der Margeritenbaum, auch Melia genannt. «Er fühlt sich in warmer Umgebung sehr wohl und ist sicherlich eine Zierpflanze mit Zukunft», sagt Marc Brillat-Savarin. Um die Identität des Parks und den Geist des Ortes zu erhalten, werden aber auch weiterhin historische Baumarten wie die Eiche gepflanzt.

Öffnung des Geistes

Wer mit dem charismatischen Aboristen durch den Waldpark spaziert, erweitert auch seinen Blick für die Bäume. Erkennt jenen, der sich windet und nach Licht sucht, sieht zwei, die sich wie Freunde zu umarmen scheinen, entdeckt die leuchtenden Blüten eines weiteren Exemplars, die von Insekten aufgesucht werden und damit die Fortpflanzung fördern. Ob er einen Lieblingsplatz im Park hat? Marc Brillat-Savarin zögert nicht lange und führt den Besucher zu einem Ort, den er den ehemaligen «grünen Saal» nennt. Er liegt links hinter der Grotte. Noch heute sieht man zwei Buchsbäume am Eingang und die sechs imposanten Zürgelbäume, die zu einer Ellipse angeordnet sind. Wie auf den Originalplänen hat Marc Brillat-Savarin Buchenhecken dazwischen gepflanzt, um die Sicht auf Dauer wieder zu schützen und den grünen Saal, auf französisch «Mon Repos», wieder zu einem verwunschenen Ort zu machen, an dem Gäste sich zurückziehen und meditieren können – und dabei nicht nur das Hier und Jetzt, sondern auch seine Geschichte spüren.